Saʿadyah Gaons ethisches Denken. Zwischen sinnlicher Erfahrung und prophetischer Weisheit.
Dissertationsprojekt von Almuth Lahmann in Islamwissenschaft.
Betreut durch Prof. Dr. Anke von Kügelgen (Erstbetreuerin, Bern) und Prof. Dr. René Bloch (Zweitbetreuung)
Bagdad war in der ersten Hälfte des 10. Jh. die Herrschaftsmetropole des zerfallenden abbasidischen Kalifats, Schmelztiegel ethnischer Vielfalt und Zentrum religiöser und weltlicher Wissenschaft. Mit einer Vielzahl von Vorstellungen einer guten Lebensführung und den daran anschliessenden Fragen zur Erkenntnis und Begründbarkeit bestimmten Udabāʾ (Literaten), Fuqahāʾ (Rechtsgelehrte), Mutakallimūn (Theologen) und Falāsifa (Philosophen) den zeitgenössischen sittlichen, theologischen und moralphilosophischen Diskurs. Mein Dissertationsprojekt untersucht das ethische Denken Saʿadyah Gaons (882-942) als einer Stimme in diesem polyphonen Orchester.
Während die Forschung bisher das moralphilosophische Denken dieser Zeit mehrheitlich unter (neu-)platonischen Gesichtspunkten interpretierte, indizieren neuere Forschungsarbeiten, eine arabische Rezeption der aristotelischen Ethik ebenfalls zu berücksichtigen. An diese Forschung schliesst die meinem Dissertationsprojekt zugrundeliegende Hypothese an: Saʿadyah Gaons ethisches Denken beruht mehrheitlich, wenn auch nicht ausschliesslich, auf Prinzipien und Konzepten aristotelischer Ethik. Mit diesem neuen Fokus lassen sich in seinen Schriften prägnante Textstellen finden, die nicht nur Ideen, sondern insbesondere die Terminologie der aristotelischen Ethik verwenden wie folgende Beispiele illustrieren: aṭ-ṭabīʿa aṯ-ṯānīya (die zweite Natur), ʿāda (Gewohnheit, Brauch), taʿawwud (Gewöhnung) und tawassuṭ (mesotēs).
Die Schlüsselquelle ist der wenig erforschte Text Kitāb ṭalab al-ḥikma (Buch der Suche nach Weisheit). Er beinhaltet Saʿadyah Gaons arabische Übersetzung des biblischen Buches Mishlei (hebr.; arab.: amṯāl, Beispiele u.a.) und seinen Kommentar dazu. In diesem Kommentar formulierte er - gemäss unserem heutigen Sprachverständnis - Grundsätze einer allgemeinen und einer spezifischen Ethik. Er verortet diese, dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Horizont folgend, innerhalb der Kommentarliteratur seiner Tradition. Denn das rechte und gute Handeln des Menschen im Allgemeinen und der Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft im Besonderen wird nicht alleine mittels individueller Rationalität erschlossen; es bedarf der autoritativen Dechiffrierung von Texten aus der eigenen Tradition, die - mehrheitlich allgemeine - Maxime beinhalten, so Saʿadyah Gaon. Ein genaues Lesen dieses vielschichtigen Textes eröffnet Anknüpfungspunkte an diverse literarische Kontexte (adab - moralbildende Literatur, tafsīr - Kommentar und Übersetzung tradierter Schriften, ḥadīṯ - Prophetenbericht u.a). Damit wird eine Rekonstruktion der Wissensfelder (ṭibb - Medizin, naḥw - Grammatik, fiqh - Rechtslehre, falsafa – Philosophie, siyāsa - Politik u.a.) möglich, aus denen der Autor für die Formulierung seiner ethischen Überlegungen schöpft.
Um die logische und methodische Stringenz und die Kohärenz seiner ethischen Positionen zu prüfen, wird Saʿadyah Gaons religionsphilosophische Schrift Kitāb al-Amānāt wa-l-Iʿtiqādāt (Buch der Glaubensdoktrinen und Überzeugungen) hinzugezogen. Die aristotelischen Begriffe werden hier häufiger über die Spezifika der Ethik hinaus angewendet. Beispielhaft sei die mehrfache Verwendung der kategorialen Aussageformen waqt (Zeit) und waḍʿ (Position) genannt. Damit integriert Saʿadyah Gaon, so die mögliche Lesart, ethische Positionen auch in den Entwurf seiner Kosmologie.
Das Forschungsprojekt schliesst sich, mit dem Zugeständnis eines beschränkten, jedoch sich verdichtenden Verständnisses, dem hermeneutischen Ansatz von Paul Ricœur an. Der Beitrag beabsichtigt eine erweiterte Rezeption Saʿadyah Gaons ethischer Texte. Ihre Kontextualisierung, im Rahmen des literarischen und wissenschaftlichen Diskurses im Bagdad des 10. Jahrhunderts, soll Saʿadyah Gaons Positionen heutigen Forschungsfragen und -interessen v.a. aus den Disziplinen der Philosophie, Islamwissenschaft und Judaistik zugänglich machen und zur Diskussion stellen.